Was ist heute Fotografie

Bebilderung des Wandels
Schon vor der Ablösung bei den Speichermedien (Film tritt ab, digitale Speichermedien treten auf) wurde fotografisches Gerät und Material etwa 170 Jahre lang immer kleiner, leichter, besser zu bedienen und technisch vollkommener.

Allem Anschein
Allem Anschein nach wiederholte sich mit der Markteinführung der Digitalfotografie also nur ein weiteres Mal, was in der Geschichte des Mediums ohnehin ständig stattfand: eine technologische Innovation, die das Fotografieren erleichterte, damit den Markt eroberte und die Zielgruppe der aktiven Fotografinnen und Fotografen erweitern half. Planfilm verdrängte die Glasplatte, großformatige Balgenkameras wurden durch tragbare und ohne Stativ benutzbare Apparate für Rollfilm ersetzt und der Rollfilm durch den Kleinbildfilm in seiner Metallpatrone abgelöst. Immer gingen diese Innovationen gleichzeitig einher mit erleichterter Handhabung, dem Gewinn neuer Zielgruppen und Märkte und Verlusten an Bildqualität.

Fortschritt soll es richten
Fortschritte bei der Herstellung von Filmmaterial, fotografischen Papieren und Chemie vermochten die Qualitätsminderung (oft nur teilweise) zu kompensieren: Vom ortho- zum panchromatischen Film oder von extrem niedrig empfindlichen bis zu trotz Empfindlichkeiten von 400/27°, 800/30°… 3200/36° ISO “brauchbaren” Filmen wurde das Material immer besser.

Ebenso die fotografische Ausrüstung: Immer lichtstärkere, verzeichnungsärmere und kontrastreichere Objektive mit je nach Wunsch immer längeren oder kürzeren Brennweiten. Genauere Belichtungsmesser, die irgendwann sogar in die Kamera eingebaut wurden. Exaktere und schnellere Verschlüsse, die ab den siebziger Jahren elektronisch gesteuert wurden. Die Elektronik lernte zunehmend, die Informationen aus Belichtungs- und Entfernungsmesser in Signale zur Steuerung von Motoren umzusetzen, die den FotografInnen das tatsächliche Einstellen der korrekten Werte weitgehend abnahmen – bis hin zum Autofokus … der Fortschritt in der Fotoindustrie war zugleich Folge und Motor vieler anderer technologischer Innovationen.

Fotos ohne Film
Als die digitale Fotografie im Massenmarkt ankam, also etwa ums Jahr 2000, schien dieser Trend sich zunächst einfach fortzusetzen: noch leichter, noch automatischer, noch schneller. Die anfangs geringere Bildqualität auch teurerer Mittelklasse-Digicams wurde durch die unmittelbare Verfügbarkeit der Fotos kompensiert – in den Augen vieler Käufer zumindest. Inzwischen ist die digitale Fotografie auch im Massenmarkt qualitativ der herkömmlichen überlegen, mindestens ebenbürtig. Bestimmte Schwächen und Stärken mögen unterschiedlich ausfallen, aber unterm Strich ist diese Aussage wohl zutreffend. Heute ist die filmbasierte Fotografie daher so gut wie verschwunden; die wenigen Fotofreaks, die sie noch betreiben, stellen keinen ernstzunehmenden Markt mehr dar.

Nicht wesentlich aufwändiger als Atem holen
Doch was in den ersten Jahren lediglich aussah wie die erfolgreiche Ablösung eines Aufnahme- und Speicherungsprinzips (Film, Papier) durch ein anderes (Sensor, Massenspeicher), entfesselte eine ganz neue Dynamik: Die Bedeutung von fotografischen Bildern änderte sich durch die „Jederzeitigkeit / Überalligkeit“ ihrer Herstellungs- und Verbreitungsmöglichkeiten grundlegend. Möglich wurde dies durch die Fortschritte in der Computer-Industrie; sie führten zu einer Klasse gänzlich neuer Geräte, die noch vor wenigen Jahren nicht vorstellbar war (außer, offensichtlich, für Mr. Steve Jobs): Smartphones sind immer dabei, können überall fotografieren und die Bilder sofort überall hin senden. Sie reichern die Aufnahmen dabei automatisch mit zusätzlichen Informationen an, darunter Datum, Uhrzeit, Aufnahmeort oder auch Informationen zu Fotografen oder fotografierten Personen. Technisch ist dank ihrer Verbreitung eine lückenlose videografische Überwachung nicht nur ihrer Besitzer sondern auch der Umgebung möglich, in der diese sich aufhalten (ebenso eine akustische). Smartphones sind multifunktionale Mess- Aufzeichnungs- Wiedergabe- und Weiterverteilungsgeräte, deren Möglichkeiten das Fotografieren weit überschreiten, es aber zu einer Tätigkeit machen, die nicht wesentlich aufwändiger ist als Atem holen.

Kurz Drübersehen
Das aber verändert die Rolle des einzelnen Bildes – von etwas Besonderem über etwas Alltägliches hin zu etwas wesentlich anderem, nämlich einem Kommunikationsmittel, für das nach einmaligem Wahrnehmen der enthaltenen Information kein weiterer Daseinsgrund mehr besteht. Abermilliarden von Smartphone-Fotos werden nach kurzem Drübersehen gelöscht, weil sie ihren Zweck erfüllt haben.

Konkurrenz durch Video
Zudem bekommt das für die Dauer gemachte einzelne „Lichtbild“ in seiner Bedeutung allmählich Konkurrenz von Videos, die nicht auf erzählerische Darstellung von Handlungen abzielen wie in Kino oder Fernsehen, sondern für “handlungslosen” visuellen Genuss gemacht sind: Fotografen entdecken das bewegte Bild als Mittel zu künstlerischem Ausdruck, seit die technischen Möglichkeiten dem damit einher gehenden höheren Speicherbedarf gewachsen sind und Computer (und Smartphones) auch die Wiedergabe von Bewegtbildern problemlos ermöglichen und in den wohlhabenden Ländern überall zu finden sind. Die Nutzergruppen von Flickr und Youtube wachsen zusammen.

Keine inhaltliche Notwendigkeit?
Nicht bloß „klassische Fotografien“ sind daher trotz irrwitzig anschwellender Fotoflut auf dem Rückzug. Auch „klassische Fotokameras“ gibt es nicht mehr. Ihre Nachfolger werden zwar noch so genannt, doch längst sind sie tragbare Kleinstcomputer mit Objektivanschluss und sehr spezieller Hardware: Sensoren, die Lichtimpulse definiert in elektrische Signale umzuwandeln vermögen. Wie wenig seit dieser grundlegenden Änderung die Beibehaltung überlieferter Formen im Kamerabau noch inhaltlicher Notwendigkeit entspricht und wie sehr bloßem Festhalten an alten (freilich bewährten) Gewohnheiten, zeigt beispielhaft das Smartphone, dessen Fotografierfunktionen erfolgreich ganz ohne kameratypische Bedienelemente gesteuert werden.

Die Voraussetzungen bleiben die alten – alles andere nicht
Je nach Gusto entspricht das Aussehen dieser Kameracomputer allerdings noch immer mehr oder weniger dem hergebrachten: Objektiv vorne, Auslöser oben, Sucher (oder Monitor-„Mattscheibe“) hinten. Es bleiben ja auch die Voraussetzungen zum Fotografieren die Alten; die korrekte Menge Licht muss, fokussiert auf die Aufnahme-Ebene, in der richtigen Zeit auf lichtempfindliches Material gelangen. Eigentlich ist das alles. So (und nur so) betrachtet, ist es egal, ob dieses Licht einen chemischen Prozess initiiert oder einen elektrischen Impuls. Das erlaubt es auch, die Resultate der neuartigen Aufnahmemaschinen weiterhin als Fotografien zu bezeichnen und sie selbst als Kameras. Unter jedem anderen Aspekt ist Digitalfotografie mit Fotografie zwar zu vergleichen. Aber etwas anderes:

Weltweit vernetzt
„Fotografie“ ist zu einem integralen Bestandteil der weltweit vernetzten EDV geworden, und damit zu einem Bestandteil der Unterhaltungselektronik. Ablesbar ist dies unter anderem daran, dass Hersteller von Fotogerät, die über etwa fünf Generationen hinweg die Märkte beherrscht (und eigentlich auch geschaffen) haben, verdrängt wurden von Namen, die man mit „Fotografie“ eher nicht in Verbindung setzte. Neu daran ist aber nicht der Verdrängungswettkampf, der die Fotogeschichte schon immer prägte, und der in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dazu führte, dass die gesamte europäische Fotoindustrie der günstigeren und innovativen japanischen weichen musste.

Fotografie ist Elektronik
Das heute Neue ist, dass nicht mehr Hersteller von fotografischen Geräten den Markt dominieren, sondern Elektronik-Konzerne, Konzerne, die auch im Computer- und im Smartphone-Geschäft engagiert sind. Das ist nicht verwunderlich, denn die zugrundeliegende Technologie ist identisch – doch es führt zu dem Problem, dass Firmen, die in der einen Sparte erfolgreich sind, sich damit in der anderen selbst Konkurrenz machen.

Das Paradox
So sehr die Industrie sich deshalb darum bemüht, ihre neuen „Kameras“ von ihren Smartphones abzuheben (die ebenfalls immer bessere Fotos machen können), um die miteinander zu verschmelzen drohenden Märkte doch noch auseinander zu halten: Derzeit stehen wir vor einem Paradox. „Fotokameras“ werden immer besser und zugleich immer überflüssiger. Denn eine JPEG-Datei ist prinzipiell weder mit Negativen, noch mit Fotoabzügen oder Diapositiven vergleichbar, birgt sie doch völlig andere Möglichkeiten, mit der enthaltenen visuellen Information umzugehen. Die neuartigen Bilder haben nichts mehr mit jenen aus der Film- und Chemiezeit zu tun. Eigentlich sind es Datensätze, die nur noch computergestützt wahrgenommen (!) und verarbeitet werden können und deren „Foto-inhalt“ bloß einer von vielen ist, wenn auch, offensichtlich, ein zentraler.

Science Fiction – heute
Nicht nur ihre Metadaten bergen die Möglichkeit, sie mit anderen Daten zu vollkommen neuen Informationen zusammenzuführen. Gesichtserkennung erlaubt die nachträgliche Verfolgung von Personen im Internet. Erste Versuche großer Internet-Unternehmen lassen die Möglichkeit aufschimmern, durch Clustern mit Geotags versehener online gestellter Digitalfotos ein neues Abbild der Umwelt zu generieren, das Google Earth vor Neid erblassen lassen dürfte, weil es im Wortsinne näher dran ist als die Spycams aus dem Orbit: die Aufnahmen einer unüberschaubaren Anzahl von Social-Media-Nutzern als ubiquitäres Auge einer vernetzten Meta-Intelligenz. Science fiction becomes reality. Nachgerade harmlos scheinen dagegen die Innovationen, dank derer es immer geringeren Aufwandes für neuartige 3D- oder Virtual Reality- Aufnahmen bedarf, in denen man, die richtige „Brille“ aufgesetzt, regelrecht umher spazieren kann. Aber auch dies ein Boom-Segment künftigen Digital Imagings, erlaubt die neue Technologie doch die visuelle Verschmelzung der Wirklichkeit mit virtueller Realität zur Augmented Reality.

Digitale Analogien
Für herkömmlich verstandene, „klassische“ Fotografie entwickelte digitale Kameraneuheiten treten deshalb trotz ihrer Auflösungs- und Lichtempfindlichkeitsrekorde, ihrer immer besseren Farb- und Detailzeichnung etc. in einer Disziplin an, in der nur noch wenig Neues und Innovatives zu finden ist. Sie sind optimiert für das Herkömmliche. Vielleicht lässt sich auch sagen: für eine „digitale Analogie“ zum Herkömmlichen? Das visuell Neue, Innovative jedenfalls findet woanders statt als in der „klassischen“ Fotografie, obwohl die Technologien immer ausgefeilter werden, mit der sie betrieben wird. Und die „Gebrauchs- und Wegwerf-Fotografie“? Wird vom Smartphone-Massenmarkt bedient.

Klassisches Handwerk ohne klassisches Werkzeug?
Doch gleich, ob High-End- oder Durchschnittsfotografie: Wer will eigentlich immer nur Einzelbilder machen, wenn Videos so problemlos zu erstellen und zu konsumieren sind? Wer unterwirft sich noch freiwillig den Beschränkungen eines Fotoapparates, wenn er eine GoPro an seine Drohne schnallen und diese mit seinem Smartphone steuern kann? Und das in einer Auflösung, die vor einem halben Menschenalter, naja, vielleicht denkbar war, aber nicht einmal für die Großen der Filmbranche zu haben? Nur die alten Foto-Fans. Denn natürlich gibt es die alten Foto-Fans noch, die unbewegte Bilder aus herkömmlichen Perspektiven und ohne Ton schätzen. Fotografie als klassisches Handwerk, womöglich als klassische Kunst, ist durchaus nicht ausgestorben. Und mit den immer weiter wachsenden technischen Möglichkeiten der Digitalfotografie wird hier weiterhin Sehenswertes hervorgebracht.

In Würde altern …
Nur – finden die wirklichen visuellen Innovationen noch in der Fotografie statt? Die Game Changer, die neue bildnerische Erzählweisen ausprobieren? Die neue Seh- und Wahrnehmungsweisen etablieren?

Ich würde das trotz der technologischen Höhenflüge im klassischen Kamera- (und Objektiv-) bau nicht wirklich bejahen. Weshalb, das habe ich hier zu begründen versucht. Ich sehe „Fotografie“ als ein in Würde alterndes Medium, das an den Rändern ausfranst und sich mit vielem Neuen mischt, das seinerseits noch keine verbindlichen Stil- oder Regelelemente ausgeprägt hat, auch, weil die Entwicklung dafür viel zu schnell stattfindet. Deshalb vor allem leiht die Fotografie diesem Neuen noch Manches, von Begrifflichkeiten über technisches Material und Know-How bis hin zu Stilelementen. Aber das ändert sich; das neue „Bildermachen“ hat längst begonnen, sich vom alten „Fotografieren“ zu emanzipieren. Ich halte diese stilistischen, künstlerischen, ästhetischen Veränderungen keineswegs für trivial – sie bebildern im Wortsinne den Wandel der Welt, ebenso wie es die Fotografie tat, aber ganz, ganz anders.

… oder neu erfinden:
Kann aber auch sein, das Neue usurpiert dabei ganz einfach die Bezeichnung „Fotografie“ und reklamiert sie erfolgreich für sich. Anzeichen dafür sind vorhanden.

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