Was ist bloß los mit uns? Beinahe ein Kommentar zum G-20-Gipfel

Eigentlich will ich auf dieser Seite nicht viel. Über Fotografie schreiben, eigentlich. Ab und zu auch Fotos zeigen, natürlich nur solche, mit denen ich meine Privatheit nicht riskiere. Eigentlich nichts Politisches äußern. Denn ich glaube nicht, dass meine Stimme in einer öffentlichen Auseinandersetzung Gewicht hat.

Eigentlich.

(Natürlich bin ich auch aus Bequemlichkeit unpolitisch. Aber man ist ja nicht verpflichtet, etwas zu tun, das nichts bringt, nur weil es bequem ist, es nicht zu tun.)

Ab und zu jedoch muss ich mich in der seltsamen Halböffentlichkeit meiner Homepage einfach politisch äußern – obwohl ich weiß, dass sie nicht gelesen wird. Vielleicht, weil ich schlecht in den Wald gehen und laut schreien kann?

Zum Beispiel, dass ich Antisemiten für widerliches Pack halte – das musste hier ja schon öfter raus. Und ich sag’s gleich nochmal: sie sind ein widerliches Pack, überall. Hier bei uns in Deutschland sind sie wahlweise am abgefeimt-bösartigsten oder aller-aller-dümmsten. Oh, natürlich auch in  der Ostmark Österreich, dieser Anschluss hält bis heute. Ja, ich weiß, es wird nichts ändern, aber es tut gut, das zu sagen, und es schadet niemandem, wenn ich auf meiner eigenen Homepage mal die Klappe aufreiße. Leider auch nicht den Antisemiten …

… Die britische Luftwaffe, las ich irgendwo, habe die einzige Aufklärung durchgeführt, die in Deutschland je stattgefunden habe. Und manchmal, besonders nach Lektüre von F.A.Z.- Leserkommentaren, möchte ich dem in einer Art Ekel zustimmen. Natürlich rufe ich mich dann ganz schnell zur Ordnung: Ich weiß, dass der Zweite Weltkrieg noch bei uns Heutigen Spuren hinterlassen hat. Wir sind Überlebende einer Katastrophe, die vor unserer Geburt stattfand.

Ich weiß aber auch, dass der Bombenkrieg von damals das Beste war, das den Braunen von heute geschehen konnte. Pseudolegitimiert das sinnlose Leid, das Millionen Deutschen damit zugefügt wurde, doch allzu schön ihre zuvor verübten Greueltaten: „Die andern haben aber auch“. Schon. Aber „wir“ haben angefangen. (Heul‘ doch, Neonazi. Nur hör auf, auf die Würde der Opfer zu spucken – aller Opfer.)

Erwin Blumenfeld: Grauenfresse (1933) Gut, der Mann. Er wusste früh, was kommen würde – und wusste es zu visualisieren. Hat leider nicht geholfen.

Doch obwohl dieses Elendskapitel der Geschichte noch immer nicht ganz abgeschlossen ist (warum sonst z.B. die gefährlichen Animositäten zwischen EU und Russland?), wirken wir alle längst an ganz neuen. Denn wir ziehen, als Spezies, kollektives Vergessen vor. „Wir lernen schon in Geschichte, dass wir nichts aus Geschichte lernen.“ So ungefähr äußerte sich mein Geschichtslehrer vor etwa 40 Jahren. Da kannte ich Hegel noch nicht, darum fand ich das Zitat originell. („Hegel“ kenne ich auch heute noch nicht, bloß ein paar Zitate. Es reicht, meinem Lehrer Zitateklau nachzuweisen.) Bis heute weigere ich mich, diesem Satz zuzustimmen. Doch je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir.

Es gibt so viele neue Krisen- und Kriegsgebiete, es gibt so viele wirtschaftliche, politische, religiöse, kulturelle Konflikte, es gibt die schlimmsten Anzeichen, dass das ökologische Gleichgewicht weltweit irreversibel gestört ist …

Und was ist los? Wir sehen wieder nicht hin. Wir ziehen es vor, die kommenden Katastrophen kommen zu lassen. Nicht nur die alten und aktuellen, sondern auch die zukünftigen Katastrophen zu ignorieren. Die jetzt noch mit vertretbarem Aufwand zu verhindern wären.

Eins allerdings ist dabei historisch neu: wir wissen es. Nie war eine Bevölkerung umfassender informiert als heute die der Industrieländer. Noch die Gräueltaten in den Kolonien konnten geschehen, ohne dass man es in den „Mutterländern“ unbedingt wissen musste. Heute ist das anders. Dennoch bleibt alles beim Alten:

Wir  wissen beispielsweise, dass aktuell 17 Millionen Menschen in einer einzigen, lokalisierbaren, in Google Earth bequem von oben zu betrachtenden Region verdursten und verhungern. Es kam in allen Nachrichten, stand in allen Zeitungen, im März und April 2017. Und was geschah? Wir wandten uns ab. Wir lassen es geschehen, gerade jetzt. Obwohl wir auch wissen, was dagegen zu tun wäre. Sinnvolle Ersthilfe wäre finanziell weniger aufwendig als, sagen wir, der deutsche Militäreinsatz in Afghanistan. Das wissen wir. Und, tut wer was?

Ich vermute: Diese Art Wissen lähmt uns – alle. Ich denke, es macht die Menschen in den Industrieländern kollektiv, als Gesellschaften, psychisch krank. Das Schlimmste daran ist (in meinen Augen), dass es, zum ersten und vermutlich einzigen Mal in der Geschichte, möglich wäre, zumindest mit diesen selbst verursachten Katastrophen Schluss zu machen. Die fortgeschrittene Industrialisierung der Welt eröffnet ja die Möglichkeit, alle Menschen, nicht bloß die jeweils eigene Untergruppe, mit allem zu versorgen, das für ein gutes Leben nötig ist.

Es ist, anders als früher, nicht mehr nötig, sich gegenseitig abzuschlachten oder verhungern zu lassen; die je eigene Gruppe könnte fantastisch leben, ohne die benachbarten schädigen zu müssen. Anders als noch vor 150 Jahren leben wir in einer Überflusswelt, nicht in einer des Mangels. Doch weil wir den neuen Reichtum weiter nach den alten Mustern verteilen, werden uns die Spannungen zerreißen. Das ahnen wir in den reichen Gesellschaften. Obendrein fürchten wir, dass sie im Süden den Preis für den neuen Reichtum nicht mehr lange zahlen können. Deshalb die Neonazis, deshalb Trump, Le Pen, Putin, Orban, die Leserkommentare der F.A.Z … die aktuelle Katastrophenstimmung sogar, nein gerade, dort, wo es den Menschen besser geht als jemals zuvor. Wir klammern uns panisch an die alten Muster, die alten, vertrauten Ausbeutungsverhältnisse.

Und jetzt mit Pathos: In den Händen der Menschen des frühen 21. Jahrhunderts liegt der Schlüssel zum Paradies. Doch wir sind, allesamt, darauf konditioniert, uns an die negativen Muster zu halten, an denen schon unsere Vorfahren sich orientiert haben.

Also scheißen wir auf jede bessere Welt, solange es uns dafür in der schlechteren nur besser geht als anderen. Diese Grundhaltung wurde soeben auf dem G-20-Gipfel in Hamburg wieder einmal zementiert.

Darum kann ich mich nicht aufraffen zu politischer Betätigung. Und bleibe im Privaten. Andere, genauso sinnlos, aber medienwirksamer, machen aus dem gleichen Gefühl Randale im G-20-Hamburg. Nein, das ist definitiv auch nicht besser.

So. Jetzt hab‘ ich wieder eine Zeit lang Ruhe.

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